Rede von Verleger Friedhelm Berger, UND-Verlag, bei der Buchpräsentation "Der
Krieg krepiert"
am 16. Juli 2007 im Bürgerzentrum "Bertha von Suttner" in Sömmerda*
"Liebe Gäste, wir feiern die Premiere von "Der Krieg krepiert"
heute in einer Einrichtung, die der
Nobelpreisträgerin von 1905, Bertha von Suttner, gewidmet ist. Einer Frau und
Pazifistin, die wunderbar als
Patin zu Sarah Udi passt: Denken wir nur an ihr 1886 erschienenes Buch "High
Life", in dem sie den
Respekt vor dem Menschen und seiner freien Entscheidungskraft thematisierte oder an
ihren 1889 veröffentlichten
pazifistischen Roman "Die Waffen nieder (Lay Down Your Arms)", der
großes Aufsehen erregte und der Bertha von
Suttner zu einer der prominentesten Vertreterinnen der Friedensbewegung überhaupt
gemacht hat.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der große deutsche Dichter Joseph Freiherr
von Eichendorff hat einmal
gesagt: Wer einen Dichter recht verstehen will, der muss seine Heimat kennen. Auf Sarah
Udi bezogen
möchte ich sagen: Wer die Fußspuren der Zwangsdichterin Sarah Udi nicht
kennt, der wird ihre Gedichte nicht
richtig verstehen. Lassen Sie mich daher - so weit dies an dieser Stelle möglich
ist - die Fußspuren der jüdischen
Zwangsarbeiterin Sarah Udi nach zeichnen:
Sarah Udi lebt heute in einem Seniorenhaus von Kfar Saba (seit Mitte September 1981
Partnerstadt von
Wiesbaden), rund 20 Kilometer nördlich der israelischen Hauptstadt Tel Aviv, in
einer kleinen Zweizimmer-
Wohnung mit Veranda und Aussicht auf einen Garten mit blutroten Bougainvilleen. Sie
ist gut versorgt -
und fühlt sich mit 93 Jahren noch verhältnismäßig gesund, körperlich
und vor allem geistig fit. Sarah Udi hat
Auschwitz und ein Außenlager des KZ Buchenwald überlebt. Wenn sie auf ihr
bisheriges Leben zurück blickt,
dann sagt sie: "Trotz allem - das Schicksal hat es gut mit mir gemeint."
Jedes Mal, wenn am Abend des 14. Nisan (März/April) das Pesachfest beginnt, das
höchste und älteste
jüdische Fest, wickelt Sarah Udi eine kleine Brosche aus einem Stück Seidenpapier
und befestigt sie demonstrativ
an ihrem Kleid. Sie ist aus Gold gefertigt und besteht aus der Zahl 11515, ihrer ehemaligen
Lagernummer als
Häftling und Zwangsarbeiterin. Sarah Udi trägt die Brosche über den
Schoa-Gedenktag und legt sie an dem Tag
wieder ab, an dem der Gründung des Staates Israel am 14. Mai 1948 gedacht wird.
Die goldene Häftlingsbrosche
(wie Sarah Udis Enkel sie nennen) ist ein Geschenk ihres Mannes Jehuda, der 1967 im
Alter von 66 Jahren
starb - ein Geschenk als Erinnerung an die wiedergewonnene Freiheit.
Sarah Udi wurde am 19. Mai 1944, ihrem 8. Hochzeitstag, mit den Eltern und rund 80
anderen Menschen aus ihrer
ungarischen Heimatstadt Munkàcs am Latorca-Fluß (damals rund 30.000 Einwohner,
davon 14.000 Juden) in einem
vergitterten Viehwaggon ins KZ Auschwitz verfrachtet. An ihrem 30. Geburtstag, dem
22. Mai, kam sie im Lager an.
Sarah Udi: "Damit endete die Zeit, in der ich ein ganz normaler Mensch war. Ich
wurde zu einem lebensunwürdigen
Geschöpf degradiert". Ihr Vater und ihre Mutter wurden in Auschwitz umgebracht.
Kurz vor dem Tod konnte die Mutter
ihrer Tochter Sarah noch einen Zettel zukommen lassen, auf dem mit Bleistift geschrieben
stand: "Du warst immer ein
gutes Kind. Gott wird dir helfen. Wo immer du dazu die Möglichkeit hast, sollst
du der Welt erzählen, was man uns
angetan hat."
Über Auschwitz schrieb Sarah Udi im Februar 2001 einmal: "Auschwitz hat meinen
Charakter, meine Weltanschauung
beeinflusst und geändert. Ich weiß nicht, ob ich ohne Auschwitz besser oder
schlechter geworden wäre, aber jedenfalls
anders als ich bin. Auschwitz hat mich geformt. Im gewissen Sinne bin ich eine Schöpfung
von Auschwitz.
Auschwitz lebt in mir weiter, wühlt in mir herum und lässt mich nicht zur
Ruhe kommen. Aber ich bin damit nicht allein.
Alle meine gewesenen Lagerfreundinnen haben die selbe Auschwitz-Krankheit."
Nach sechs Wochen unmenschlicher Lagerhaft wurde Sarah Udi im KZ Auschwitz aussortiert
und mit weiteren
weiblichen Häftlingen am 1. Juli 1944 in einem Güterwaggon ins Ruhrgebiet
nach Gelsenkirchen transportiert. In der
bombardierten Stadt musste die junge Lehrerin Trümmer beseitigen und in der zerstörten
Benzinfabrik der Gelsenberg
Benzin AG Aufräumungsarbeiten leisten. Am 19. September 1944 wurde das Kommando
nach einem heftigen
Bombenagriff der Alliierten, der auch vielen Häftlingen das Leben kostete, aufgelöst.
Wer wie Sarah Udi noch
arbeitsfähig war, der wurde nach Thüringen abkommandiert - in die Stadt Sömmerda,
in ein Außenlager des KZ
Buchenwald, zur Zwangsarbeit in der Munitionsfabrik Rheinmetall-Borsig. Sarah Udi:
"Die körperlichen Entbehrungen,
inklusive ständiges Hungergefühl, waren für mich nicht allzu schwer
zu ertragen. Auch nicht die Peitschenhiebe der
Aufseher hier und da oder ihre Tritte mit dem Stiefel. Aber ich habe seelisch gelitten.
Ich habe mich in Sömmerda
geschämt, weil ich nicht den Mut hatte, zu sterben. Ich sah mich als Kriegsverbrecherin,
die für eine dünne Suppe am
Tag in der deutschen Kriegsindustrie arbeitet." Bis zum 8. April 1945 wurde Sarah
Udi im Zünderbau des Sömmerdaer
Rheinmetall-Werkes eingesetzt - wie bis zu 696 andere weitere weibliche Häftlinge,
vorwiegend Ungarinnen jüdischen
Glaubens im Alter von 16 bis 60 Jahren, auch.
Für die Ausbeutung der jüdischen Frauen, die bei Rheinmetall-Borsig in der
Geschossproduktion, im Zünderbau
und im Laborierwerk arbeiteten, stehen zwei Zahlen als Beispiel: Allein im Dezember
1944 wurden 319.000
Stunden Zwangsarbeit verrichtet, für die von der Konzernmutter ein Betrag von
113.424 Reichsmark an die SS
überwiesen wurde (Quelle: Bundesarchiv Berlin/Lichterfelde).
In Sömmerda hat die Zwangsarbeiterin Sarah Udi ("tief in mir arbeitete der
Lebensinstinkt, ich wollte leben")
ihre Gedanken und Gefühle in Gedichten niedergeschrieben. Zunächst auf Material-
oder Lohnscheinen, bis ihr eine
Kameradin ein Stück Karton und graues Papier besorgte. Daraus stellte Sarah Udi
im Januar 1945 ein kleines
Lyrikbändchen her. Auf die Titelseite malte sie einen sechszackigen Stern und
schrieb mit graublauer Farbe, mit der
damals Munition gekennzeichnet wurde, in ihrer ungarischen Muttersprache das Wort "Szürke..."
("Grau..."). Sarah Udi: "Nie zuvor oder nachher hatte ich so ein starkes
Bedürfnis, meine Gefühle schriftlich auszudrücken. Ich könnte
auch heute Verse schreiben, wenn ich wollte, aber ich habe nicht das Bedürfnis,
den seelischen Drang dazu. Ich bin
eine Zwangsdichterin."
Nach der Schließung von Rheinmetall-Borsig gelang Sarah Udi während des
Evakuierungsmarsches am 13. April 1945
in der Nähe der sächsischen Stadt Glauchau mit vier "Lagerschwestern"
die Flucht. Sarah Udi: "Wir hatten uns
tagelang auf Landstraßen und Wegen herumgeschleppt, ohne Verpflegung und Obdach.
Wir sind im Sonnenschein
und Regen gelaufen und hatten uns von rohen Rüben ernährt. Ich habe sogar
junges Gras gegessen und Schnecken."
Erste Hilfe bekamen die jüdischen Flüchtlinge in Häftlingskleidung von
amerikanischen Soldaten. "Sie haben alle
möglichen Sachen von ihren Trucks zu uns heruntergeworfen: Konserven, Seife, Schokolade,
Socken und Gott weiß,
was noch alles. Wir sind dort gestanden, wortlos und haben geweint, geweint, geweint...",
erinnert sich Sarah Udi.
Nach Aufenthalten in verschiedenen Lagern, unter anderem in Villach (Österreich)
für displaced persons (staaten-
und heimatlose Personen), gelang es Sarah Udi im August 1945 nach Ungarn zurückzukehren.
Im März 1946 verließ
sie das Land jedoch für immer. Im Frühjahr 1947 versuchte sie, in einer Vollmondnacht
von Italien aus an Bord
eines alten Schwefel-Frachters mit 700 Menschen nach Palästina auszuwandern. Nach
zehn Tagen Fahrt wurde das
Schiff jedoch kurz vor dem Ziel von englischen Kriegsschiffen vor der Küste aufgebracht
und in den Hafen von
Haifa geschleppt. Alle Passagiere, so auch Sarah Udi, wurden verhaftet und nach Zypern
gebracht - in ein Lager
für politische Häftlinge. Sarah Udi: "Fast ein Jahr waren wir auf Zypern.
Im März 1948 wurden wir freigelassen.
Am 15. März 1948 sind wir an Bord der "Dolores" endgültig in Haifa
angekommen, und zwar als freie Menschen in
unserem Land."
In Palästina/Israel fand Sarah Udi schließlich nach langem Suchen auch ihren
Mann wieder, der als aktiver Zionist
im Untergrund tätig gewesen war. Das Ehepaar schlug sich zunächst mit Gelegenheitsarbeiten
durch. Im Spätsommer
1948 bekam Jehuda in Tel Aviv eine Festanstellung in einer Importfirma für Bauholz
- und Sarah Udi konnte im Oktober
des gleichen Jahres wieder in ihrem geliebten Beruf als Lehrerin im Schuldienst arbeiten...
Im Jahr 2000 besuchte Sarah Udi zum ersten Mal Sömmerda, die Stadt in Thüringen,
in der sie als weiblicher
Häftling Nr.11515 von Auschwitz-Buchenwald zur Zwangsarbeit in der Rüstungsindustrie
gezwungen wurde, aber
auch bewegende Gedichte schrieb. An ihrem 86. Geburtstag trug sich Sarah Udi in das
Goldene Buch der Stadt
Sömmerda ein. Anschließend besuchte sie den Geschichtsunterricht einer 11.
Klasse des Albert-Schweitzer-
Gymnasiums und berichtete von ihrer "grauen Zeit". Zu den Jugendlichen sagte
sie damals. "Als der Krieg zu Ende
war, wollte ich Rache und Genugtuung, nicht Wiedergutmachung. Doch Hass wirkt zerstörend
und selbstzerstörend.
Wir dürfen die Vergangenheit nicht vergessen, aber auch nicht darin erstarren."
* Sarah Udi ist am 3. September 2007 in Israel gestorben.
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