Reden zu Buchpremieren • Prosa



Heike Rode am 26. September 2008 bei der Buchpremiere von
"Blaurausch" in Jena
über die Lebenswege von Autor Prof. Dr. Edwin Kratschmer.

Spurensuche oder Der Versuch einer Annäherung

"Es soll vom Leben eine Spur übrig bleiben - die Nachkommen sollen wissen, was war.
Wir wollen wissen, was war. Den Lebenslauf zu beschreiben ist auch Sinnkonstruktion.
Die fragt nach dem subjektiv gemeinten und dem objektiv stattgefundenen Leben. -
Der Mensch muss doch mehr sein, als die Summe seiner Habseligkeiten. Das Leben
muss doch mehr sein als eine Abfolge unterschiedlicher Ereignisse. Und: "Jeder von uns
ist mehrere, ist viele, ist ein Übermaß an Selbsten."


Wie sich annähern an einen, dessen Leben aus Puzzlestücken besteht, die beim
Zusammenfügen jedoch etwas Einheitliches, Ganzes ergeben; die sich fügen, setzt man
sie nur recht zusammen? Wie sich annähern an einen, der in seiner Selbstauskunft
angibt: Landarbeiter, Lehrer, Kunsterzieher, Galerist, Freiberufler, Gymnasialdirektor, Kunst-
und Literaturwissenschaftler, Prof. Dr. phil.? Der aber auch ist: Erzähler, Wissensverwalter,
Herausgeber, Intellektueller, Schriftsteller, Philosoph, Schöpfer, Förderer, Bewahrer, Moralist,
Wissenschaftler, eine auf eigene Faust Reflektierender und Räsonierender.

Eine Biografie ist eine Lebensbeschreibung. Ich will an dieser Stelle versuchen, das Leben,
I h r Leben, sehr verehrter Herr Prof. Kratschmer, zu beschreiben, soweit und so gut das an
eben dieser Stelle möglich ist. Ich will mich auf Spurensuche begeben und sie als
Zuhörer auf meiner Suche mitnehmen, ich will aus Bruchstücken ein Ganzes fügen und
vielleicht gelingt mir, gelingt uns, so ungefähre Annäherung, Begreifen und Verstehen.

Am 9. Juni 1931 wird Edwin Kratschmer von seiner Mutter Aloisia, geborene Löschinger, in
ihrem 33. Lebensjahr, in der Komotauer Wassergasse 2, im Böhmischen, als viertes und
ungewolltes Kind in die Welt gepresst. Sein Vater Johann ist bei der Geburt nicht anwesend.
13 Jahre nach dem ersten und acht Jahre vor dem zweiten der beiden großen Kriege wird ein
Kind im Sternzeichen Zwilling geboren.

Zwilling-Geborene sollen schlagfertig sein, unbeständig, gesprächig und gewandt, bekannt
für ihre Redegewalt, geistreich, klug und oftmals sehr belesen. Der Zwilling-Mensch besäße
einen hervorragenden Verstand und würde der Gelehrsamkeit größere Bedeutung zumessen
als emotionalen und praktischen Belangen. Wusste dies Aloisia Kratschmer? Wurde ihr
Sohn Edwin wegen seines Sternzeichens der, der er werden musste und letztendlich wurde?

Wieder an einem 9. Juni, diesmal im Jahr 1945, verweigert die Mutter ihrem Sohn früh um
sechs Uhr die Glückwünsche zum 14. Geburtstag. Ihr Heulen und Schluchzen wird übertönt von
einem, die Straße entlang fahrenden, Lautsprecherwagen, der frühmorgendlich unüberhörbar
auffordert, alle Männer zwischen 14 und 65 mögen sich bei Androhung der Todesstrafe bis sieben
Uhr im Stadion versammeln. Und so wird der Sohn Edwin Zeuge von und Beteiligter an etwas,
das als Todesmarsch der Komotauer Männer in die Geschichte eingehen sollte.


8000 deutschstämmige Komotauer Männer, unter ihnen Edwin und sein Vater sammeln sich auf
dem Jahnsportplatz. Dort stehen sie in Reih und Glied, nackt, breitbeinig, die Hände hinterm Kopf
verschränkt. Man untersucht, ob unter ihrer Achsel die Blutgruppe tätowiert und sie damit als
Angehörige der SS ausgewiesen waren. Die so Gezeichneten müssen vortreten. Alle anderen
haben sich in einem großen Karree aufzustellen und werden genötigt zuzusehen, wie die nackten
SS- Männer in bestialischer Weise von den Tschechen zusammengeschlagen werden. Wenn sie
ohnmächtig in ihrem Blut liegen, gießt man kaltes Wasser über sie oder streut Salz in ihre Wunden.
Gegen Mittag findet dieses grausige Martyrium sein Ende. Bereits dort sterben zwischen 12
und 20 Menschen.

Danach müssen die Männer, es sollen weit mehr als 4000 gewesen sein, im Dauerlauf
durch verschiedene Ortschaften Richtung Erzgebirgskamm laufen. Auf dem Weg dahin gehen
die Repressalien und Quälereien weiter.
Wer nicht folgen kann, oder entkräftet in den Strassengraben fällt, wird erschlagen oder erschossen.
Die Zahlen der auf diese Weise Ermordeten schwankt zwischen 100 und 300 Männern.

Nach Ableistung von Zwangsarbeit als "Deutscher" bis August 1945 in Pschan und Nehranice wird
Edwin Kratschmer nach Thüringen evakuiert. Er studiert Kunst, Literatur und Psychologie an den
Universitäten Berlin, Greifswald und Leipzig; heiratet 1953 Margret, geborene Malz; bekommt im August
1958 eine Tochter geschenkt; verteidigt 1969 in Leipzig seine Dissertation zur Poetogenese, das Werden
zum Dichter; ist 1970 Seminarleiter beim 1. Zentralen Poetenseminar in Schwerin; wird zum Wegbereiter
der Jugend- Poetenbewegung der DDR und ist bis zum Jahr 1983 Lehrer in Thüringen. Mit seiner Frau
Margret und dem Journalisten Hannes Würtz gibt er die Jugendlyrikanthologien "Offene Fenster" heraus.
Die Sammlung, auf deren Grundlage die Anthologien herausgegeben werden, umfasst später 100.000
Texte von 15.000 Textautoren aus der Zeit von 1964 bis 1990, sie wird 1996 der Universität Jena
geschenkt und heute zu Forschungszwecken genutzt.

Am 9. Juni 1979 wird er vorgeladen, kafkaesk die Szenerie. Kratschmer schreibt darüber: "Das MfS ist
mir schon lange auf der Spur. Eines sonnigen Tags die Vorladung. Zwecks Kaderfragen haben sie sich
dannunddann und dortunddort einzufinden. Am Tonfall schon erahn ich die lauernde Gefahr. Da beginnt

dann schon das Fandangospiel mit der Seele und das Hirn fängt an, fieberhaft zu suchen: Wesnurwes hab
ich mich schuldig gemacht. Und ich nehm mir das Strafgesetzbuch vor und arbeite mich Paragraph für
Paragraph hindurch, 85, 86, 91, 83, 96, 97,101 bis 104, alle gemacht, um jeden für alles oder nichts in die
Bredouille nehmen zu können. Ich schieb mich unter mein Mikroskop und stell fest, ich bin tatsächlich
in einem Dutzend Fällen schuldig. Das Schuldmaß schwingt sich in astronomische Höhen und verschnürt
mir den Hals, lange bevor sich da wer daran zu schaffen macht. Nachts greift der Kraken Angst nach mir."

Was folgt, ist 1983 die Demissionierung aus dem Staatsdienst. Er wolle kein System bedienen, das ihn
misstrauisch observieren ließ - sagt es und geht. Edwin Kratschmer betreibt in den folgenden Jahren
gemeinsam mit seiner Frau eine Galerie und ist freiberuflich als Kunstwissenschaftler und Galerist tätig.
1987 initiiert er, wiederum gemeinsam mit seiner Frau, die Kunstsammlung der Maxhütte Unterwellenborn
und schafft damit Raum für staatskritische Künstler der DDR. Die Sammlung gehört heute dem Freistaat
Thüringen.

1990 wird Edwin Kratschmer zum Gymnasialdirektor in Saalfeld berufen und begründet das Heinrich-Böll-
Gymnasium. 1992 erhält Kratschmer einen Lehrauftrag der Friedrich-Schiller-Universität Jena für
Neueste deutsche Literatur. Als nunmehr Professor hält er Vorlesungen zur Jugend- und DDR-Lyrik, zur
Ästhetik der Gewalt, initiiert die Internationalen Jenaer Poetik- Vorlesungen und ist Leiter des Archivs
Jugendlyrik der DDR an der Universität Jena. Die geistigen Väter des Jenaer Colloquiums über Kunst
und Freiheit - Literatur und Diktatur sind Jürgen Fuchs und Edwin Kratschmer. Der Publizist Udo Scheer
nennt Edwin Kratschmer "einen der wichtigsten Multiplikatoren für gesellschaftlich engagierte Literatur
im Osten Deutschlands."

Am 9. Juni 1996 verleiht der Rektor der Universität Prof. Kratschmer die Schiller- Medaille. Auf der
Urkunde ist nachzulesen: "Edwin Kratschmer ist eine herausragende, vorbildhafte Persönlichkeit,
charakterfest, standhaft, mutig und opferbereit, voller Takt, ideenreich, kreativ und dennoch
außerordentlich bescheiden."

Am 9. Juni 1999 erhält Edwin Kratschmer eine Honorarprofessur. Die Universität Jena versichert sich
damit "eines unermüdlichen und in Fragen der neuesten Literatur ungemein kompetenten Geistes".

Am 9. Juni 2006 gibt das Collegium Europaeum Jenense eine Festschrift zum 75. Geburtstag heraus.
"Edwin Kratschmer - Wärmestrom in bleierner Zeit". Wärmestrom - über den Jürgen Fuchs schreibt:
"Sterben... Das habt ihr oft verhindert, ihr Literatur- Eltern der altmodischen humanen Sorte/ In kleinen
Wohnzimmern, mit Büchern und/ Bildern...Selbst in bleiernen Zeiten, wo die Engel vom Himmel fielen/...
Euer Wärmestrom, euer Zuhören und Briefeschreiben/ Trotz Postkontrolle/ Euer Einstehen für uns
Irrsterne/ Am rotzackigen Himmel der Diktatur/ War das Geschenk."

Edwin Kratschmer schreibt; schreibt seit seinem 16. Lebensjahr; Gedichte, Romane, u. a. "Dichter,
Diener Dissidenten, "Das ästhetische Monster Mensch", "Habakuk oder Schatten im Kopf"
, weiter
Dramen, Essays, Monografien, Beiträge zu Kunst und Literatur, bringt Buchreihen heraus. Schreibt.
Schreibt gegen das ungeheuerliche Treiben der Menschen in der Welt, über den Terror des schönen
Scheins, über die Gewalt des Wortes und des Gelächters, über das Leben zwiespältiger Existenzen.
"Schreibt und schüttet sich hin. Herz und Hirn, Träume und Triebe, Gift und Galle, den ganzen vergorenen
Sud." ... "Da dokumentiert, registriert, verschriftet, veraktet sich einer, offenbart sich ein rätselhafter
Unbekannter: (ich)er."


Edwin Kratschmer - haben wir uns genähert und angenähert, haben wir verstanden, begriffen,
erfasst, ergründet, eins und eins und noch eins ans andere gefügt, zu einem großen Ganzen.
Entstand ein Lebensbild? -
Ein Stück weit. Ein wenig. Vielleicht.
"