Reden zu Buchpremieren • Theater-Edition



Rede (Auszüge) von Verleger Friedhelm Berger (UND-Verlag) bei der Buchpremiere

des Versdramas "Die Niederlage oder Montanien ist überall" von Autor Horst Schumacher
am 24. September 2010 im Historischen Rathaus der Stadt Jena.

Ein starkes Stück gegen jeden Totalitarismus

"Begriffe sich der Mensch nur ganz,/Und säh er seine Zeit nur recht!"

Horst Schumacher hat sein in fünf Bilder aufgeteiltes Versdrama ursprünglich "Der General"
(Arbeitstitel), später dann "Die Niederlage" genannt. Es ist, auf den Punkt gebracht, ein starkes
Stück gegen jeden Totalitarismus. Das Werk entstand zwischen 1952 und - in der letzten
Bearbeitung - 1965 in Jena. Der Titelzusatz "Montanien ist überall" erfolgte erst im Zuge der
vorliegenden Erstveröffentlichung durch den UND-Verlag. "Montanien" - das fiktive und totalitäre
Trommlerreich - war als Schauplatz der Handlung allerdings schon in der Urfassung, die der
Autor selbst als "dramatischen Versuch" bezeichnete, vorhanden.

Einschneidende Erlebnisse für Horst Schumacher, am 13. Oktober 1926 in Gohlitz/Westhavelland
geboren, waren Nazidiktatur, Krieg und Fronteinsatz in Italien mit 17 Jahren sowie vier Jahre
englische Kriegsgefangenschaft (1944 bis 1948) in Wüstenlagern in Ägypten und Libyen. In Jena
traf Horst Schumacher die geflüchtete Mutter und seine drei Geschwister wieder. Der Vater, ein
Maschinist, galt als vermisst und wurde später für tot erklärt.

Anstoß zur Niederschrift für Schumacher - er studierte von 1950 bis 1954 Germanistik und
Pädagogik an der Friedrich-Schiller-Universität - war der Höhepunkt des Stalinismus in der DDR
im Sommer 1952.

Der Autor selbst schrieb im Januar 1991 rückblickend über sein Stück: "Das Grundanliegen des
Werkes, einem gesellschaftlichen Umbruch und seinen Grundsituationen nachzuspüren sowie das
Verhalten einzelner dabei zu gestalten, erwuchs aus dem facettenreichen Geflecht ganz persönlicher
Lebens- und Welterfahrungen, die ich unter zwei Diktaturen und in der Kriegsgefangenschaft
gewonnen und auf meine Weise verarbeitet habe: stark überhöht, streckenweise phantastisch und
darum - vielleicht ungewohnt - in Versen."


Und weiter formulierte Horst Schumacher, der von 1956 bis zum krankheitsbedingten Vorruhestand
1990 als Lehrer an der Südschule I in Jena (später POS Fichte I) tätig war: "Meine Figuren tragen
weder Braun- noch Blauhemden. Namen wie Mäulig, Gläubig, der Maskentragende, Anonymus, der
Zustimmende verraten schon, daß es Individuen und Grundtypen zugleich sind. Montanien gab
es in der Vergangenheit, und es existiert, weltweit gesehen, in der Gegenwart fort - überall
dort, wo Recht und Unrecht, Freiheit und Unfreiheit, Humanität und Barbarei zusammenstoßen
und den einzelnen zu Entscheidungen zwingen: Montanien ist überall, und jedes der fünf
Bilder bestätigt das."


Die Hauptfiguren des Stücks werden einleitend durch einen Ausrufer vorgestellt. Das erinnert
an Jahrmarkt, an Panoptikum. Ingeborg Schumacher, die an der Seite ihres Mannes
(Heirat im Sommer 1953) die Entstehungsgeschichte des Versdramas in allen Phasen
miterlebte und heute wichtige Zeitzeugin ist: "Zunächst geisterte dem Verfasser auch ein
entsprechendes Schlussbild durch den Kopf: Die Akteure sollten einen Thespiskarren
über die Bühne ziehen und schieben, behängt mit allen Klunkern des abgewirtschafteten
Militarismus: Uniformen, Epauletten, Orden, Schärpen usw. - ab damit in die Rumpelkammer
der Geschichte. So kam es dann nicht: Es wurde ein offener Schluß - wie im Leben auch."


In der DDR hätte "Die Niederlage" keine Chance auf eine ungestrafte Veröffentlichung gehabt.
Horst Schumacher bot sein Versdrama - gewarnt durch demonstrative Strafen gegen andere
Autoren - auch niemals öffentlich an, "da er unter den kulturpolitischen Bedingungen der frühen
DDR-Jahre von vornherein keine Chance auf Veröffentlichung sah und sich den
ideologischen und ästhetischen Normen nicht beugen wollte"
, wie der Historiker Joachim Walther
2005 in seinem Beitrag "Literatur gegen den Strom" feststellte: "Der Autor beharrt auf einer
unideologischen Weltsicht und entzieht sich bewusst einer neuerlichen Indienstnahme der Kunst
durch den Staat, negiert die in der DDR angebotenen Traditionslinien und artikuliert
akzentuiert Erkenntnisse der Generation junger Intellektueller nach dem menschlichen, geistigen
und materiellen Desaster des Zweiten Weltkrieges. Sicherlich war dies auch ein bewusstes
Distanzieren von der vierschrötigen Agitation der frühen fünfziger Jahre in der DDR: das Schaffen
eines ästhetischen Überlebensraumes und eine Verteidigung des Individuellen gegen die
kollektivistische Vereinnahmung."


"Begriffe sich der Mensch nur ganz, /Und säh er seine Zeit nur recht!"… Was heißt das,
seine Zeit "recht" sehen ? - Für Horst Schumacher bedeutete dies: unermüdlich lernen,
kritisch hinterfragen, begreifen, verarbeiten, aufrütteln , mahnen - ein Prozess ohne Ende
oder wie es in seinem Versdrama heißt: "Des Lernens ist kein End."

Horst Schumacher besuchte acht Jahre die Volksschule. Nach der Schulentlassung Ostern 1941
absolvierte er (obwohl vom Vater einem Freund für die Schlosserlehre versprochen) auf Betreiben
der Mutter eine zweijährige Lehre als Verwaltungsangestellter auf dem Landratsamt der
Kreisstadt Meseritz (heute Miedzyrzecz/Polen).
Lernen, lesen, selbst mit Worten gestalten, das war dem jungen Schumacher Grundbedürfnis.

Mit 15 Jahren wurde er zum ersten Mal gedruckt - in der Kreiszeitung, mit einer humorvollen
Geschichte über ein hamsterndes Ehepaar. In Ermangelung von Büchern sammelte er alte
Zeitschriften. Im ersten Brief aus der englischen Kriegsgefangenschaft steht der Satz: "Meine
Zeitschriften haltet ja in Ordnung. Es sind Talismänner."


In der Gefangenschaft - besonders ab 1946 - erfolgte "der große Umbruch zum Lernen neuer
Qualität"
, wie Horst Schumacher feststellte: "Der Krieg war aus, wir Gefangenen durften arbeiten,
und ich bemühte mich - zunächst in Pausen bei der Arbeit im Steinbruch und beim Straßenbau -
Englisch zu lernen."
Der Zugang zu englischen und amerikanischen Blättern verschafften
ihm im fernen Tripolis wichtige Einblicke in die Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse und auf
das gebeutelte Nachkriegsdeutschland. Ein Crashkurs von acht Wochen machte ihn im Lager
zum Lehrer für Mitgefangene. Horst Schumacher unterrichtete Deutsche Literatur und Grammatik,
Stenographie und Englisch: Learning by doing.

Dies alles bewirkte nach der Traumatisierung durch die Kriegserlebnisse als junger Infanterie-
Soldat und Melder im Fronteinsatz einen ungeheuren seelischen Aufschwung und geistigen
Reifungsprozess und hob das Ringen um eigene Ausdrucksmöglichkeiten auf neue Stufen: Gedichte
aus der Gefangenschaft beschwören die ferne Heimat. Kostprobe von Mai 1947: "Leise, leise
rauscht der Wind/Wie in alten Tagen; Stille, stille wie ein Kind/ Wiegt sich Glockenschlagen./Durch
das Fenster schweigen mild/Wunderselge Sterne./Süßes, hohes Märchenbild/Traumentrückter
Ferne:/Ach, ein düftereicher Hain/Unschuldstiefer Ruhe/Öffnet sich im Blütenschein/Meine
Kindheitstruhe.
" Auch der Titel seines späteren Versdramas "Die Niederlage" fand gewissermaßen
einen vorweggenommenen Niederschlag in einem Brief. Aus Tripolis schrieb der knapp
21-jährige an seine Mutter:

"… Es wird die Sonne, die unendliche und milde, auch über seinen Trümmerhalden, Zeugen des
Wahnsinns und der Dekadenz, in alter Pracht stehen…Wirklich, die Niederlage kann zum Segen für
uns ausschlagen… und ich möchte hinzufügen: sie w i r d es !"


Nach Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft im Sommer 1948 (im Gepäck Bücher aus der
aufgelösten Lagerbibliothek) holte der nach Jena verschlagene Horst Schumacher sein Abitur
nach und nahm an der Friedrich-Schiller-Universität sein Studium auf. Im August 1952 begann er
mit der Niederschrift seines Versdramas. Es war ein langer Arbeitsprozess. Die Umsetzung
von durchlebter Wirklichkeit, von Nazidiktatur, Heimatverlust, Krieg, Gefangenschaft und dem
Totalitarismus in der DDR, in die Wahrheit der Kunst, sollte insgesamt 13 Jahre dauern.
Immer stimuliert von dem Wunsch: "Begriffe sich der Mensch nur ganz./Und säh er seine Zeit
nur recht!"
. Und getragen von der Überzeugung, die er seinem "Maskentragenden" in den Mund
gelegt hat: "Des Lernens ist kein End."

Besonders bemerkenswert: In den Fünfzigerjahren, also vor dem Beginn des Mauerbaus in
der DDR 1961, hatte Horst Schumacher mit seiner Schreibmaschine (sie ist auf dem Buchcover
zu sehen) folgende mahnenden Zeilen aufs Papier getippt:

"Wenn Mauern Menschen voneinander trennen,/Der Freund den Freund nicht mehr erkennt,
/Wenn Nachbarn selbst einander überprüfen - /Eingezogen und behutsam-zart - /Ob denn das
Fundament noch trägt,/ Und dann die Pforten leise schließen,/ Hat sich die Despotie bewährt/
Nach ewig alter, ewig neuer Art."


Horst Schumacher ist am 16. Dezember 1996 nach dramatischen Herzproblemen verstorben.
Seine letzte Ruhestätte hat er auf dem Jenaer Nordfriedhof gefunden. Nur zwei Worte stehen auf
seinem Urnengrab: "Dem Dauernden." Sie sind Titel eines Gedichtes von Horst Schumacher,
das im Sommer 1953 entstand und mit folgenden Versen beginnt und auch endet: "Preis sei dem
Dauernden, /Das im Vergänglichen/Nahrung und Leben,/Rastloses Streben/Lächelnd verteilt."


Das Versdrama "Die Niederlage" wurde als Script von Schumachers Witwe Ingeborg mit
Schenkungsvertrag vom 22. August 2001 der bundesunmittelbaren Stiftung zur Aufarbeitung der
SED-Diktatur in Berlin für das "Archiv unterdrückter Literatur in der DDR" übergeben.
Vorausgegangen war ein Aufruf vom "Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung e.V.
an der TU Dresden"
zur Sicherung in der DDR entstandener und unterdrückter literarischer Texte
aus privaten Nachlässen.

Heute, fast 14 Jahre nach dem Tod von Horst Schumacher, liegt das Versdrama als deutsche
Erstveröffentlichung vor: Eine mutige Parabel eines außergewöhnlichen Dichters und Dramatikers
von zeitloser Aktualität. Ein Lehrstück für den Schulunterricht, eine Empfehlung für das anspruchsvolle
Theater, und natürlich auch als Lesestoff für Zuhause.

"Begriffe sich der Mensch nur ganz,/ und säh er seine Zeit nur recht! /Das Unbegreifliche, das
ihn zerstückt,/Das Qualvoll-Dumpfe blieb zurück,/Und Stuf um Stufe, sternenan,/Zur Klarheit käm er,
Schritt für Schritt.-/Begriffe sich der Mensch/Nur g a n z."