Rezensionen



Romane


Schriftsteller Udo Scheer in „Thüringische Landeszeitung“ (TLZ) vom 23. Januar 2016
über die Roman-Neuerscheinung „Schattentanz“ von Prof. Dr. Edwin Kratschmer:


Edwin Kratschmer legt tabulosen Lebensroman vor

„Dieses Buch war mein schwierigstes. Es hat sich zu vieles in so langem Leben
angesammelt“, sagt Edwin Kratschmer (84). Im literarischen Schaffen dieses Mannes,
der seit seinem siebzigsten Lebensjahr sieben Romane und Erzählbände veröffentlicht
hat, bildet „Schattentanz“ ein Schlüsselwerk und ist weit oben einzuordnen.
Der Interessierte sei jedoch gewarnt, dieses tabulose Erinnerungsbuch ist nichts
für Leser, die vor allem Zerstreuung suchen. „Nein, nimmer will ich Belletriste sein.
Schreiben ja, aber nicht für Flaneure“, beharrt Ed Kraut, „Kraut“ wie Deutscher
und das Alter Ego seines Meisters.

Bereits mit dem ersten Satz des Romans legt Kraut sich auf die Freudsche Couch des
Psychiaters Laychkessel, womit eine furiose Lebensfahrt beginnt. Was folgt, sind auf
400 Seiten die Selbst- und Weltsichten eines Vollblutkeptikers. Ed Kraut macht dabei häufig
keine angenehme Figur, manchmal wird er regelrecht unerträglich, denn Edwin Kratschmer
will keinesfalls einen positiven Helden zeichnen. Er seziert tabulos das menschvererbte
„neandertalische Prinzip“ Sex, Kampf, Macht, Verderben vor seinem 84-jährigen
Erfahrungshintergrund.

Wer diesen Roman aufschlägt, steigt in einen Lebensfundus, gebündelt in zwei Büchern,
die sein Autor lakonisch „Sinkflug“ und „Totentanz“ nennt. Doch auf Dr. Laychkessels
Psychocouch finden sich auch Erinnerungsfilme, die Krauts „Sinkflug“ zeitweilig vergessen lassen.
Es sind kleine Inseln des Glücks, etwa die tiefe Liebe zu Mea, seiner Frau, und ihre Wärme
für ihn, die beider Körper und Denken, bis ins hohe Alter wieder und wieder vereint.
Sie ist seine Geborgenheit, sein Halt und seine Kritikerin.

Doch Harmonien wie diese werden grell durchbrochen von durchlebten Abgründigkeiten
des so aberwitzigen wie mörderischen zwanzigsten Jahrhunderts. Da trifft Ed als
achtjähriger Steinewerfer in das Schaufenster des Juden und fragt sich später tief beunruhigt: „
Wasnurwas wäre aus mir geworden, hätte das Großdeutsche Reich obsiegt.“ Da ist der
Scheiterhaufen mit noch zuckenden Menschenleibern im Stadion, als Ed mit vierzehn auf den
Todesmarsch geschickt wird. Schlüsselbegriffe brechen auf: Menschen = Meute = Morden.

Später keimt Hoffnung im Neuanfang, das Glück beim Bauern überm Schweinestall in
den Hungerjahren, dann im Internat das „Frühlings-Erwachen“, ein Jagdrevier sexueller
Begierden beider Geschlechter, mittendrin als Platzhirsche Ed und seine Schülerband mit
„Boogy Woogy“ und „Bella, bella Marie“.

Ihn packt der Malrausch, Fratzen und Figuren, gleichsam der Hölle entsprungen, wimmeln
auf Dachpappbahnen, okkupieren seine Wohnungswände. Und unvermittelt bricht aus diesem
Kopfchaos die Entdeckung seiner Lieblingsfarbe Ultramarin.

Da ist er schon Lehrer und hält die Totenrede für einen Schüler, einen jungen Poeten,
mit dem er nächtelang über Gedichten saß, der nun aus dem Grenzfluss gezogen wurde.
Von da an vermittelt er rastlos „Mut gehört zum Wort“. Er wird republikweit zum Geheimtipp,
zum Mentor junger Schreibender, unter ihnen einer, der „zur Zeit Quarkfässer
ausfährt“: Jürgen Fuchs.

Was von dieser Zeit bleibt, ist das Archiv Jugendlyrik. Das gibt es wirklich, 100 000
Gedichte von 15 000 jungen Poeten. Als Schenkung im Bestand der Universität Jena ist
es heute ein einmaliges Zeugnis der Befindlichkeit einer ganzen Generation DDR-Jugendlicher.
Die Reaktion damals ist ein Aufschrei unter Funktionären. Ed sieht sich dem kaum aushaltbaren
Druck ausgesetzt, dem „Dienst“ zu dienen. Kraut alias Kratschmer entzieht sich durch
Austritt aus dem Schuldienst in den vogelfreien Fall.

Und dann, im Jetzt, hat einer die Idee, Ed Kraut solle doch zum 150-jährigen
Bestehen seiner Schule, an der er einst Schüler und Lehrer gewesen, die Festrede halten.
Und warum nicht ihre Schülerband von vor 65 Jahren noch einmal reaktivieren?

Doch es kommt nicht zum Revival, es gibt keine gemeinsame Wellenlänge mehr, zu weit
haben sich die einst verschworenen Bandmitglieder auseinander gelebt. Auch seine Festrede,
so viele Ansätze Kraut durchdenkt, wird er nicht halten. Stattdessen die Ernüchterung,
wenn man sich schon innerhalb ihrer Generation kaum versteht, wie kann er erwarten,
von „Teenies“ verstanden zu werden, von einer Generation, „die von der Geschichte zuvor
kaum eine Ahnung hat.“ Soll er ihnen auf den Kopf zusagen: „Alle zwanzig bis
dreißig Jahr verliert die Menschheit ihr Gedächtnis. Wie da plötzlich alles offen
und möglich, selbst dritter Weltkrieg?“

Dieses Buch reißt schonungslos Masken herunter , die verhängt sind über animalische
Begierden und dumpfe Gewalt, über Trieb und Dominanz, Verdrängen und Versagen.
Zugleich beobachtet Ed Kraut nüchtern den Verfall seines eigenen morbiden Körpers.
Es ist ein schonungsloses Konstatieren des Altwerdens und der Ankunft im Altsein.
Der Schlussakkord wird zum flammenden Plädoyer gegen „die Abgeordneten, die Theokraten,
die Mediziner, die Pharisäer eben“, die sich anmaßen, das Recht auf einen selbstbestimmten
Tod in Würde zu verwehren.

Der Erinnerungsstrom in „Schattentanz“ findet seine Form über 30 Séancen lang in einem
absatzlosen Fließtext. Mitunter verzweigt er sich in Nebenschauplätze oder essayistische
Einsprengsel, dann wieder galoppiert er gehetzt im Wettlauf mit einem sich ankündigenden
Infarkt. Die Sprache ist, wie man es bei Kratschmer nicht anders kennt, einzigartig
in der deutschen Literatur, sie ist eruptiv und radikal, oftmals getragen von Jamben und
freien Rhythmen und ein bewusster Bruch der Regeln, dort wo sie zum Erzählhemmnis
werden könnten. Der letzte Satz bricht jäh ab mitten im Wort. Der Skeptiker hat gesiegt.
Der Leser, so er sich auf dieses Opus eximium einlässt, ist seine Ruhe los.



Prof. Dr. Gabriele Eckart, Southeast Missouri State University (USA), am
1. Februar 2012 in der Online-Zeitschrift "Glossen" (Carlisle) über die Familiensaga

"Wahnwald" von Edwin Kratschmer (Übersetzung):

Im seinem vierten Roman erkundet Edwin Kratschmer einen Wahnwald. Ein Ich-Erzähler
namens Edmund Kraut geht dabei der Geschichte seiner Ahnen nach. Sein Vater
Johann hat den Stammbaum seiner Vorfahren hinterlassen, der bis ins Jahr 1423 zurück reicht.
So reist Ed in die tiefen Wälder Böhmens, wo sie gelebt haben und wo er die Seelen seiner Ahnen
noch in den Baumkronen murmeln hört, und er fragt: „Wo mögen sie sein: im Himmel oder in
der Hölle?" Als Grund für seine Reise in diesen "Ahnwald, Wahnwald ", der mittels Wortspiels
gewandelt wird, benennt der Erzähler: „Ich will wissen, woher des Wegs ich komme, wie meine
Erbschaft seit Herdenzeit, wie meine Ahnen in mir fortleben fortahnen fortlieben forthassen
fortdichten, wie sie sich in mir eingerichtet haben und in mir schalten und walten!"

Dabei identifiziert sich der Erzähler in seiner Phantasie mit jenen früheren Krauts (die Frage, ob
Kratschmer diese angelsächsische Bezeichnung für die Deutschen bewusst genutzt hat, bleibt bis
zum Schluss offen), mit ihren Erfahrungen als Opfer und Täter, Gewinner und Verlierer, Gläubige
und Ketzer. Wie schon in Kratschmers anderen Romanen und Essays (siehe Das Ästhetische
Monster Mensch), kam mir das Grauen wegen der fatalistische Vision des Autors über das unge-
heuerliche Menschenwesen. In allen Kapiteln (sie handeln in den Kriegen um 1945, 1866, 1805, 1626
und 1423), erleben die Protagonisten unglaubliche Gewalt, sei es durch marodierende Soldaten,
durch häusliche Gewalt oder die Pest. Die Gänsehaut überlief mich bei der Lektüre über den Dreißig-
jährigen Krieg, als ausländische Soldateska in das böhmische Dorf einfallen, die Einwohner
massakrieren und die meisten Familienmitglieder zu Tode foltern. Nach dieser Szene musste ich
das Buch für einige Tage weglegen.

Auch Kratschmers barocker Stil und seine Vorliebe für ein Vokabular, das zu einer Ästhetik des
Hässlichen gehört, wirken verwirrend. In einem Handout des Romans schreibt der Verleger über diese
Sprache: „Je tiefer er [der Erzähler] in die Vergangenheit eindringt, umso karger, härter,
ungelenker, grober, kakophoner, unrationaler, aber auch umso bildhafter wird sie." Diese Beobachtung
ist richtig, je weiter die Handlung zurückreicht, desto grausamer wird diese Sprache. Bedeutet dies aber
nicht, dass Kratschmer eigentlich ein Optimist ist? Denn wenn wir das Buch rückwärts lesen
(d.h. von der Vergangenheit in die Gegenwart), wird die Sprache leichter, weicher, eleganter und auch rationaler.
Hegt Edwin Kratschmer unbewusst dennoch die Zuversicht, dass mit dem historischen Fortschritt mehr
Menschlichkeit in die Geschichte gekommen ist? Es scheint fast so. Eine Inschrift von Georg Maurer
am Anfang des Buches lautet: „Was ist das für ein Singen, das man hört? Niemand ist doch zu sehen.“
Dieses "Singen", das tatsächlich zwischen den Zeilen des Buches, das doch so voll von
schwärzester Ahnung ist, gehört werden kann, wenn auch nur ganz leise, ist doch als ein Zeichen
der Hoffnung zu nehmen.

Der Text beginnt mit einem "Vorspiel" und endet mit einem "Nachspiel" - sie bilden den Rahmen
dieses literarischen "Forschungsprojekts" des Erzählers über seine Ahnen und über seine eigene
Biografie. Im "Vorspiel" erinnert er einige Episoden aus der Zeit, als er selbst in Böhmen lebte,
bevor er im Alter von vierzehn Jahren von dort "vertrieben" wurde. Mit Schrecken sieht er sich
als Jungen, wie er selbst an einer brutalen Ausschreitung gegen einen jüdischen Händler teilnahm,
und aufstörende, schlimme Erinnerungen stellen sich ein, als er später mit seinem Landrover an
einem Ort namens Lidice vorüber kommt, wo einst SS-Schergen alle männlichen Einwohner
massakriert und die Frauen in Konzentrationslager verschleppt haben.

Das Leben der meisten Vorfahren wird in der dritten Person erzählt, aber mittendrin, etwa in der
Erzählung des Großvaters, wechselt der Autor plötzlich zum Ich. Solche Perspektivwechsel
bereichern den Stil.

Über fünfzig Seiten lang muss der Leser von "Wahnwald" durch einen "Wahnsinnswald." Das beginnt,
als Banden von Soldaten in das Dorf einfallen, plündern, brandschatzen und vergewaltigen. Ein
zweites Motto des Buches, es ist ein Zitat von Georg Büchner, sagt: "Was ist das, was in uns lügt,
mordet, stiehlt? Ich mag dem Gedanken nicht weiter nachgehen." Kratschmer geht dieser Frage nach.
Seine Antwort: Wir Menschen sind ein Fehlschlag, so sehr wir uns auch zu bessern versuchen:
„Du rutschst immer wieder in die gleiche Spur [...] Und alle hundert Jahre eine Plage biblischen Ausmaßes,
der Durchmarsch einer Seuche, Keulung und Ausmordung." Es gebe nur eine sehr geringe Hoffnung
auf Fortschritte bei der Entwicklung unserer Existenz. Unter des Erzählers Ahnen befanden sich Schrift-
steller und Künstler, die unter Repressionen gelitten haben. Jaschek Kraut etwa, ein Altarmaler,
wurde in den Napoleonischen Kriegen rekrutiert. Als er später Jesus am Kreuze malen sollte, erinnerte
er sich der Qualen der sterbenden Soldaten und porträtierte ihre Leiden in Gottes Antlitz. Nur durch
Glück entging er dann selber dem Martertod.

Der Erzähler verwendet diese Eingriffe der Zensur in das Leben seiner Vorfahren, um damit die
Unterschiede zwischen der Ästhetik des Schönen und der des Hässlichen, die er "Ästhetik des
Schreckens und Grauens" nennt, zu diskutieren und die immer den Sieg davonträgt. Nach Edwin
Kratschmer habe Kunst schonungslos die Wahrheit aufzudecken – oder es sei keine Kunst.
Mögen andere das auch anders sehen.

Mehrere Kritiker rühmen Kratschmers „Wortmächtigkeit". Udo Scheer scheint es, als ob diese gewaltige
Sprache in ihrer Reduzierung und Grobheit "aus alter Zeit herübergewehe“, aus der Zeit Luthers und
Erasmus’. Tatsächlich las Edwin Kratschmer immer wieder deren Texte, bevor er "Wahnwald" schrieb,
um sich in die Sprache der Vergangenheit einzuleben. Er bereicherte seinen „altmodischen“ Stil
aber auch durch die erfolgreiche Nutzung von Synästhesien: „Rosa meckerte die Zibb, grau grunzte
die Sau, rot sprach Marie, gelb keuchte Hochwürden, gold schlug die Glock von Sankt Martin“.
Dadurch ermöglicht er die Transzendenz alltäglicher Erfahrungen. Obzwar atavistisch, passt das
gut zu dem Versuch, das Vergangene stilistisch zu verlebendigen.

Neugierige, die am Motiv des Alters in der Literatur interessiert sind, können in Kratschmers Buch
eine Fülle von Material finden, da der 80-jährige Erzähler seine eigenen Alterssymptome gnadenlos
offen legt und oft auch das Leben seiner Ahnen mit Fokus auf Alter und Sterblichkeit erlebt.
Darüber hinaus ist der Text für solche, die den Begriff der "Heimat“ erforschen, eine reiche Fundgrube,
zumal im Kapitel "Das Buch Pschan" – Pschan ist der tschechische Name für "Ahnwald", in dem der
Erzähler seine Reise in seine böhmische Heimat in aller Ausführlichkeit beschreibt – der Heimat-Begriff
aus vielen interessanten Blickwinkeln diskutiert wird. Vor allem aber werden Leser aus ehemaligen
kommunistischen Ländern, die noch durch ihre Erfahrungen traumatisiert sind, Kratschmers Buch
mögen, weil es eine wichtige Frage aufwirft, die nur wenige zu stellen wagen: Ist das wirklich allesvorbei,
ein für alle Mal? Im Pschan-Kapitel erinnert sich der Erzähler eines kürzlich geführten Gesprächs mit
Ludvík Kundera, das hier zitiert werden sollte. In ihm beschwert sich der berühmte tschechische
Schriftsteller über den schrecklichen Verlust der Jahre seines Lebens, „umkreist und umzingelt von
Geheimpolizei“. Da drückt der Erzähler seine Erleichterung darüber aus, dass der so genannte
real existierende Sozialismus endlich auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet sei. „Ist er das
wirklich?' fragt Kundera und der Löffel im Teeglas tremolierte."

Ich hoffe, dass dieses interessante Buch viele Leser finden wird!



Der Schriftsteller Udo Scheer in der "Thüringer Landeszeitung" (TLZ) vom 28. Mai 2011 über die
Roman-Neuerscheinung "Wahnwald" von Prof. Dr. Edwin Kratschmer:


Edwin Kratschmer legt einzigartige Familiensaga vor

"Edwin Kratschmer ist ein literarisches Phänomen. Sein Romandebüt gab der Querdenker, der jüngst
zum Ehrenbürger seines Heimatortes Unterwellenborn ernannt wurde, vor zehn Jahren mit Siebzig.
Zu seinem 80. Geburtstag, den er am 9. Juni begeht, schenkt er seinen Lesern und sich seinen
inzwischen fünften Roman.
Doch diese Warnung vorab: Was Edwin Kratschmer nach seinen fulminanten literarischen
Lebensberichten in "Habakuk", "Blaurausch", "Die Doppelhalsgeige" und "Siebenschlaf" nun
mit "Wahnwald" vorlegt, sprengt einmal mehr den Rahmen heutiger Lesegewohnheiten. Ed Kraut,
ebenso Achtzig wie sein Alter Ego und Autor, begibt sich auf die Spuren seiner Ahnen in den
Ahnwald. Den Namen Kraut trägt die Familie, seit sie vor siebenhundert Jahren dem Ruf König
Wenzels nach Böhmen folgte und das Land am Schindhang besiedelte. Ed will endlich wissen,
welches Vorväterblut in ihm kreist, und so sucht er die verfallene Kate seiner Kindheit an eben
jenem Schindhang auf: Da steh ich in der Kat und bin mir Wiedergänger. Und der mir aus der Tür
entgegentritt, ist vierzehn und bin ich.

Noch einmal erlebt Ed Kraut 1945 seine Vertreibung als "Volksdeutscher" durch die Svoboda-Leute.
An seinem 14. Geburtstag wird er auf den Marsch geschickt. Wer zurück bleibt, wird erschossen.
Im nächsten Film zurück in die Geschichte findet er sich als Dorflehrer Hannes Kraut wieder. Man
schreibt das Jahr der preußischen Invasion 1866. Weil die Särge nicht reichen, werden die Toten im
Geröll des Steinbruchs begraben. Der Ahnwald wird zum "Wahnwald" und Mahnwald.

Noch weiter zurück findet Ed sich in Jaschek Krauts Leben, einem Rekrutierten im napoleonischen
Krieg. Später soll er, der eigentlich ein Kirchenmaler ist, Christus Kreuzwegmartyrium darstellen.
Er erinnert sich an die Sterbenden auf dem Schlachtfeld und im Spital, an deren schmerzverzerrte
Gesichter und klaffenden Wunden, die er skizzierte. Er, der Jesus in Erhabenheit auf seinem letzten
Weg malen soll, kann nicht anders als das Teuflische und Grauen des siebenstündigen Todeskampfes
ins Bild zu setzen. Denn, verteidigt er sich: Jeder Mord ist Tortur Entmenschung und viehisch
Schindung Keulung Abschaffung. Auch der an dem Manne von Nazareth. Nur mit Glück entgeht er für
seine Wahrheit dem Ketzertod.

"Wahnwald" ist ein Zeitgemälde und eine Familiensaga aus der Perspektive der einfachen Leute am
Schindhang. Sie schicken sich in ihr Schicksal oder brechen aus und verstehen nicht, warum das
Bittersalz der Geschichte immer ihnen bleibt.
Noch eine Zeitebene zurück wirft der Dreißigjährige Krieg seine Schatten. Bevor Landsknechte
plündern und brandschatzen, pfählen und vergewaltigen, bevor die Gemeinde in ihre Hungerverstecke
am Schindhang flieht, feiert sie. Denn niemand weiß was morgen wird.

So sammelte sich also alles Volk auf der Großn Wiesn zu Bohnenfest. Die Knecht schürten drei große
Feuer und hängten Kessel darüber, voll mit Bohnenmampf, und bald dampfte es daraus. Gesund ist
ein Leib, der fressen saufen rülpsen harnen farzen klöken kann! Was hinein ins Maul, muss unten oder
auch oben wieder raus! rief der Jann und setzte sich vor einen Schaffen. Wer die größte Meng
gemampft, ist der König!

Edwin Kratschmers Wortmächtigkeit zieht in ihren Bann. Einmal in den "Wahnwald" eingetaucht, scheint
es, als sei selbst die Sprache in ihren Derbheiten und Abschleifungen aus jener Zeit herübergeweht.
Auf die Frage, wie er zu dieser Sprache gefunden habe, sagt er: Ich glaube, die Sprache hat mich
gefunden. Wenn man sich in dieses Mittelalter hinein lebt, kann man gar nicht umhin, einen Erasmus
von Rotterdam zu lesen oder das Rollwagenbüchlein - oder ich habe mir täglich ein Pensum Altes
Testament verordnet. Das ist eine phantastische Sprache
in der Übersetzung von Luther.

Im Schlussbild des Romans dreht sich ein Kinderkarussell auf dem Markt, bis "Drehwurm droht. Nur die
Zeit ist gangen hin." Hautnah geführt durch sechs Leben in ihrer Zeit, möchte man erschrecken, wie
Schicksale sich wiederholen, wie wenig Nachfahren aus ihrem Ahnwald lernen.
Edwin Kratschmers Roman "Wahnwald" ist bereits für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zu einer
erzählerischen Meisterleistung gratulieren dürfen wir dem Autor in jedem Fall."



Udo Scheer auf der Kulturseite der "Thüringer Landeszeitung" (TLZ) vom 20. Februar 2010
über die Roman-Neuerscheinung
"Siebenschlaf" von Prof. Dr. Edwin Kratschmer:

Befreiung vom alten System
 

"Der Leser sei gewarnt: Was Edwin Kratschmer nach seinen fulminanten, in Teilen
exzessiven literarischen Lebensberichten in "Blaurausch" und "Die Doppelhalsgeige" (beide 2008)
nun in seinem die Trilogie abschließenden Roman "Siebenschlaf" vorlegt, verweigert sich den heute
üblichen Lesegewohnheiten. Dabei ist die Handlung schnell erzählt.
Von Professor Laychkessel, Leiter einer psychiatrischen Anstalt, wird Ed, der Skribent, diesmal
angeregt, dem Leben von David Siebenschlaf nachspüren. Und Ed fragt sich bald: "Schreiben, zu
welchem Resultat?" Denn immer führt sein "Geschreib" zurück auf das Grausame als Teil
dieser Welt.
David ist Sohn einer dem Todeslager entkommenen jüdischen "Zwangsdichterin" und eines
Vaters, der - einst Rottenführer in Böhmen - sich durch die Heirat sein Alibi für die Zukunft schuf.
Fortan funktioniert er für das "bessere Deutschland", unterschreibt die Verpflichtungserklärung,
liefert Gutachten und lässt seinen Sohn David zum Schutz der eigenen Karriere observieren.
Später erfährt der Sohn aus seiner Akte den Außenblick auf sein lange gelenktes Leben. Und also
entledigt er sich, Ödipus gleich, seines einstigen Übervaters, der, in alten Denkmustern verhaftet,
hilflos und verwahrlost dahinsiecht. Es ist ein Mord nicht ohne Mitgefühl - gleichsam eine Parabel
auf das überwundene System.
"Siebenschlaf" ist einmal mehr ein Vorstoß in die dramatischen Irrwege und Zwänge des
missratenen 20. Jahrhunderts. Frühere literarische Gestalten tauchen auf, der ungehörte Frager
und Prophet Habakuk, und immer wieder Professor Laychkessel, der jeder Macht dienstbare
Manipulator, dazu hochverehrte Lehrer, Aussteiger, Denunzianten und Vernehmer ...
Unvermittelt greifen neue Gestalten in die Handlung ein. Da ist der junge Lyriker und Aufklärer
Squenz - unverkennbar Jürgen Fuchs in all seiner Konsequenz - oder der Maler Marré - eine
Verbeugung vor dem Maler Horst Sakulowski.
Kein Wort, keine Grenzüberschreitung in diesem Roman wird dem Zufall überlassen. Mit seinem
enzyklopädischen Wissen um Religionen, Historie und Philosophie, bewandert in Psychologie und
den Künsten, baut der Autor Erzählräume auf, um sie abrupt zu durchbrechen. Er tauscht durchlebte
Ereignisse und die Charaktere seiner Figuren scheinbar beliebig, um ihre Erlebnisräume neu zu
verschmelzen.
Edwin Kratschmer ist ein literarisches Phänomen im deutschen Sprachraum. Zu seiner Sprache
zu finden, hatte ihn einst, nach seinem Ausstieg aus dem Lehrerberuf in der DDR, im "freien Fall"
gerettet. Sprache, bis in ihre extreme Ausformung ist seither Medium für diesen späten Expressionisten.
Dabei findet er sich in bester Tradition. Es ist wohl kein Zufall, wenn bei Ed mitunter Brüder im
Geiste erscheinen wie der Humanist François Rabelais, einer der derbfrechsten Ketzer und tabulosesten Wortneuschöpfer der Frührenaissance. - Fast am Ende steht: "Ein wunderbares Feuerwerk wars."
Dem wäre noch viel hinzuzufügen."



Dr. Tatjana Mehner am 6. Juni 2009 in der Wochenendbeilage der Ostthüringer Zeitung über
die Roman-Neuerscheinung "Die Grube" von Prof. Dr. Gottfried Meinhold

Vom Sog der Tiefe

"Es sind der Lärm und die Tiefe an sich, die gleichzeitige Macht und Nichtigkeit des Menschen,
die den Architekten Kelt in eine tiefe Krise und an den Rand der Existenz führen.
Gottfried Meinholds "Die Grube" ist einer jener Romane, die viel zu einmalig sind, um sich
irgendeinem Subgenre zuschlagen zu lassen. Und es ist eines jener Bücher, die man nur ungern
aus der Hand legt, bis man das letzte Wort gelesen hat. Ohne jemals ins Didaktische oder
Plakative zu verfallen, schafft Meinhold Sinnbilder, die zutiefst bewegen müssen. Da stehen weder
Lärm noch die Baugrube für sich allein, sondern sie verkörpern eine Vielfalt von Bedeutungen in
einer extremen wechselseitigen Verstrickung.
Es mag daran liegen, dass Meinhold über Jahrzehnte an dieser Idee gearbeitet hat, dass das
Buch von einer bemerkenswerten Zeitlosigkeit ist, die immer wieder zurück auf das Wesentliche
der zentralen Sinnbilder führt.
Kelt ist ein erfolgreicher Architekt, gefeiert vor allem für das gigantische Projekt eines urbanen
Koloss, der schließlich in Feuerland gebaut wird. Wesenburg ist der symbolträchtige Name des
Bauwerks. Das Wechselspiel und die Gegensätzlichkeit von Gedanke und Tat sind hier ein
zentrales Motiv.
Ein riesiges Bauvorhaben unmittelbar neben Kelts Wohnung reißt schließlich im
wörtlichen wie im übertragenen Sinne Gräben auf - gegenständliche, psychische, physische
und sinnbildliche. Die Faszination der Grube führt zu einer großartigen Studie über die
unterschiedlichen Formen des Erlebens und des Erwiderns."


Udo Scheer auf der Kulturseite der TLZ vom 6. Februar 2009 über die Roman-Neuerscheinung
"Die Grube" von Prof. Dr. Gottfried Meinhold:

Stararchitekt zwischen Grube und Pendel
Meinholds literarischer Appell an die Menschlichkeit


"Als eine monströse Baugrube den Stadtpark unter seinen Fenstern in ein klaffendes Loch
verwandelt, kann Kelt, der Ich-Erzähler, nicht anders, als sich bewusst dem malträtierenden
Baulärm auszusetzen. In dem Maße, wie die gigantische Grube in felsiges Gestein getrieben wird,
wachsen in dem Stararchitekten Zweifel an seinem eigenen Großprojekt im unwirtlichen
Feuerland, einem von modernster Architektur umschlossenen künstlichen Palmenstrand. Die Natur
nach innen gestülpt, hat er diesen ober- wie unterirdischen Experimentalbau für ein Leben in der
Vertikalen projektiert, mit künstlichem Panorama, Sonnenlicht und Klima.

Man kann "Die Grube" durchaus als Fortsetzung von Gottfried Meinholds 1984 nur mit Hindernissen
in der DDR erschienenen utopischen Erfolgsroman "Weltbesteigung" lesen. Dort arbeiteten
Wissenschaftler in einer hermetisch abgeschlossenen High-Tec-Stadt unter enormen Erfolgsdruck
an der Maximierung der Lebensintensität. Doch die Zweifel wuchsen mit: Wozu?

Die auch in der sozialistischen utopischen Literatur des Zwanzigsten Jahrhunderts gern hinterfragten
Spielarten gigantomanischer, letztlich menschenfeindlicher Zukunftsstädte bekommen in
"Die Grube" eine neue Dimension. Parabelhaft erzählt dieser Roman von Zwängen, die wir uns
selbst geschaffen haben, denen wir am liebsten entfliehen würden, denen wir uns aber viel zu oft
unterwerfen.

Die Grube wird zum gestaltgewordenen Symbol einer Fallgrube zwischen Gold- und Mördergrube.
Bemerkenswerterweise nutzte gesellschaftskritische Fiction-Literatur bislang kaum diese
naheliegende Metapher, sieht man einmal ab von Edgar Allan Poes "Die Grube und das Pendel",
jener berühmten Erzählung über die Hilflosigkeit des Opfers angesichts seines sinnlosen Endes
auf einer Todesmaschine.

Sich im Selbstversuch dem martialischen Lärm der Grube aussetzend, erkennt Kelt nach dem
Freitod einer Obermieterin: Mit Menschen experimentiert man nicht, auch nicht in der Architektur.
Er selbst flieht in einen Hörsturz, verstärkt durch inneren, halluzinatorischen Lärm.

So gehen die Proteste gegen die Grube und gegen die von den Behörden willkürlich ausgesetzten
Lärmschutzgesetze zunächst an ihm vorbei. Während seine Geliebte, eine Journalistin und sein Arzt
wie Hunderttausende aktiv werden, gegen städtische Korruption bei der Auftragsvergabe
demonstrieren, die Grube besetzen, die Maschinen sabotieren und mit einem Sender den Aufstand
mobilisieren, bleibt Kelt verfangen in seinem Zwiespalt, als Architekt involviert und als Lärmgeschädigter
zugleich entsetzt zu sein. Er ist kein Held, aber er verhilft nach einem Anschlag auf die
Grubenmaschinen dem Attentäter zur Flucht und sympathisiert mit den Protestlern. Vor allem aber
wird er zum Beobachter der Entwicklung bis hin zum Rücktritt der Stadtregierung.

Der Sog der Grube verändert jeden. Kelt widersteht neuen Großprojekten und schwört seinem
Architektenberuf ab, "dieser Anmaßung, Gehäuse zu errichten, in die sich Menschen freiwillig oder
nicht verfügen... Diese Einbunkerung des Menschen, die scheinbare Geborgenheit im abschließbaren,
eng begrenzten Raum, wo er sich der perfekten Täuschung vorgespiegelter Räume anvertraut".

Auch wenn Gottfried Meinholds Lust am Erzählen und seine Sympathie für die Akteure bisweilen von
überschwänglichem Pathos getragen ist, der konsequente, packend geschilderte Ausbruch aus subtiler
Entmündigung zieht in seinen Bann. Mit der Sensibilisierung für neues Krisenbewusstsein und für
unsere zivilisatorische Verantwortung ist dieser Roman hochaktuell."


Der Publizist Udo Scheer über den Roman "Die Doppelhalsgeige" von Prof. Dr. Edwin
Kratschmer auf der Kulturseite der "TLZ" vom 28. November 2008:

Im Tollhaus der Geschichte
Eindrucksvoller Roman eines Lebens


"Nein, diese Doppelhalsgeige ist kein Instrument der Musen. Das harmlos daherkommende
Wort meint vielmehr jenen Doppel-Pranger, in dem einst zwei Widersacher, Kopf und Handgelenke
eingespannt, Gesicht gegen Gesicht, zu Vernunft kommen sollten.

Nur zwei Monate nach seinem Erzählband "Blaurausch" (TLZ vom 25.9.) legt Edwin Kratschmer
nun einen Roman vor, der auch ein Familienroman über drei Generationen ist. Man gewinnt den
Eindruck, hier schickt einer seine Lebensernte in die Welt - und die changiert zwischen dem einmaligen
Glücksfall Mensch zu sein, und aberwitzigen menschengemachten Katastrophen.

Zusammen mit dem Philologie- und Medizinstudenten Ernst Fall wird der Leser brutal in
die Schlammlöcher des Ersten Weltkrieges gestoßen, mitten hinein in die Monstrosität der
Tötungsmaschinerie, dorthin, wo Heroismus zu animalischem Überlebenstrieb verkommt, wo
im Artilleriefeuer der Schließmuskel versagt, wo Ernst Fall im Sturmangriff das Bajonett in die
Gedärme des Gegners stößt und später sagt: "Du hast getötet! Ich - ein Andrer!"

Noch einmal davongekommen, nur einen Arm verloren, wird er Hilfsassistent in einem Notlazarett.
Einzig die "Nichtabgeschriebenen" kommen noch unter die Säge, werden amputiert, ohne Narkose.
Kratschmers Sprachgewalt, die Intensität und Drastik des Geschehens erinnern an Remarques
"Im Westen nichts Neues".

"Wer durch die Hölle gegangen ist, findet oft nicht heraus", weiß Ernst Fall und begibt sich auf die
Couch des Psychiaters. In schonungsloser Selbstbefragung und im Diskurs mit großen Denker aller
Zeiten versucht er zu ergründen: Was ist gut? Was ist böse? Was ist unsere Wesensart?

Im zweiten Teil des Romans findet er mit Mara, der Liebe seines Lebens, seine Profession als
Lehrer am Gymnasium "zu Welte". Ein Gedicht, der letzte Hilfeschrei eines Schülers, macht ihn zum
Mentor zahlloser junger Poeten. Ernst Fall habe sich ideologisch verdächtig gemacht, wird Twin später
sagen. Twin, das ist sein erfolgreicherer Widerpart und Vorgesetzter, erst als Fahnenjunker und
Durchhaltefanatiker, dann als Schuldirektor und bedingungsloser Verfechter von Disziplin und Ordnung.
Abgestoßen von der heraufziehenden Diktatur und vom Missbrauch seiner literarischen Gutachten brennt
Ernst Fall sein Archiv und sich mit Benzin aus der Welt.

Manches bei Kratschmer hat autobiografische Züge, der "Heldentod" des Bruders, das Schicksal
der Eltern, ein Leben zwischen Lehrerdasein, Literatur und Kunst, die Vertreibung aus dem böhmischen
Komotau, im Roman liebevoll als "Welte" gezeichnet, mit Todesmarsch und geglückter Flucht. Die
durchlebt im dritten Teil ein Jungscharführer, adoptiertes Kind und Eliteschüler. Als der nach dem zweiten
Krieg nach seinen Eltern sucht, gerät auch er an jenen Twin, jetzt in neuer Funktion als Twinuschewitsch,
und erfährt, er sei Ernst Falls Sohn...

Die Doppelhalsgeige ist ein beeindruckendes literarisches Werk von bleibendem Wert. Der letzte Satz
endet ohne Punkt. Eine Fortsetzung ist von Kratschmers kleinem, engagierten Verlag mit "Siebenschlaf"
bereits angekündigt."



Prosa

Udo Scheer über "Blaurausch" von Prof. Dr. Edwin Kratschmer auf der Kulturseite der
"Thüringer Landeszeitung" vom 25. September 2008:


Intellektuelle in den Zwängen ihrer Zeit
In zehn neuen Erzählungen kreuzen die Figuren den Lebensweg des Autors Edwin Kratschmer

Da liegt Ed, der Erzähler „mittnachts bäuchlings abgestützt auf den Ellenbogen“, bohrt den
Bleistift in den Block und „pflügt tief im Papier“. Allein schon die Schreibhaltung ist Tortur.
So schafft der Skribent, wie er sich nennt, seine Figuren, das kleine, ausgestoßene Mädchen
im Heim, das Liebe bringt zwischen dem versehrten Kriegsheimkehrer Ernst Fall und Mara, der
Erzieherin (Falls Verlöbnis). Für die Rahmenerzählung lässt er schmerzverspannt einen Alf
zum Alph mutieren, lässt ihn manisch Daten über seine Mitmenschen sammeln, Liquidationslisten
anlegen und eine Institution suchen, die Verwendung hat...
Schreibbesessen muss Ed Ordnung bringen in seine chaotische Existenz. Der Leser ahnt, jede
dieser zehn Geschichten, die er gleichsam auf einer langen Leine ins Heute hängt, kreuzt auch eines
der verschiedenen Leben des Edwin Kratschmer. Er, ein sudetendeutscher Vertriebener Jahrgang 31,
Landarbeiter, dann als Lehrer in die Mangel der Stasi genommen, mit Berufsausstieg und freiem
Fall in die Nische Kunst, schließlich Professor für Neueste Literatur, lässt seine Figuren in ähnlichen
Lebenssituationen durchspielen: Was wäre wenn...
Es sind schonungslose Geschichten über Intellektuelle, die überwiegend scheitern in den Zwängen
ihrer Zeit. Ihre Rigorosität verstört.
Glück hat noch der Rilkeforscher, der mit 51, so alt wie Rilke in seinem Todesjahr, sich seiner Forschung
entledigt und in einem abgelegenen Dorf zum Leben, damit zum Erzählen findet (Urrichs Vermächtnis).
Doch schon jenem beliebten Kunstlehrer, der mit seinen Schülern Aktzeichnen übt, der so die Philister
provoziert und für den Geheimdienst fast erpressbar wird, bleibt nur der allerletzte Ausweg (Fimms Ende).
Auch der Psychologen, dessen Expertisen über die Wechselwirkung von Seele und Farbe missbraucht
werden, kann sich nur noch in eine Zelle seiner geschlossenen Anstalt einschließen und die Zeichen der
Apokalypse an der Wand immer wieder blau übermalen (Blaurausch).
Getragen von furioser Wortgewalt durchbrechen Kratschmers irritierende Erzählungen gewohnte Muster
drastisch „bis ins Gekrös“. Zugleich wird der Sud der Geschichte mit einem kräftiger Schuss
[lebenserfahrenen] Nihilismus abschmeckt. Literatur light schmeckt anders.
Diese Erzählungen im Spannungsfeld zwischen den Triebkräften des Bösen und dem „Humanum Mensch“
[mit seinen Albträumen, Anfälligkeiten und Zweifeln] sind ein Novum in der deutschen Literatur. Wer sich
auf sie einlässt, findet sich in einer gern verdrängten Parallelwelt wieder.
Es spricht für den Mut des ursprünglich Münchener, jetzt Stadtrodaer Verlegers Friedhelm Berger, zum
fünfundzwanzigsten Jubiläum seines UND-Verlags diese anspruchsvolle Prosa herauszugeben. Wohl nicht
umsonst erhielt dieser Verlag mit seinen Schwerpunkten Kunst, Lyrik, Prosa, Zeitgeschichte im Jahr 2005
den bedeutenden Innovationspreis der Deutschen Druckindustrie.



Zeitgeschichte

Johanna Hertzsch, Greifswald, über
"Blondinen wurden aussortiert" von Anita Buchheim
in "Zeitgeschichte regional - Mitteilungen aus Mecklenburg-Vorpommern" der Geschichts-
werkstatt Rostock, 14. Jahrgang, Heft 1, Juli 2010:

Mit "Blondinen wurden aussortiert" legte Anita Buchheim eine außergewöhnlich beeindruckende
Dokumentation ihres Lebens vor. Grundlage des Werkes sind neben ihrer lebendigen Erinnerung
zahlreiche Briefe von ihr und ihren Familienmitgliedern aus dem besetzten Rügenwalde/Darlowo
in Polen (1945-1947) an ihre damals in Schwerin und später in Thüringen lebende Schwester Erika,
die ungefähr die Hälfte des Buches umfassen. Anita Buchheim schrieb seit den 70er Jahren ihre
Lebensgeschichte für ihre Tochter Siegrun auf: "Damit du weißt - verstehst - und vor allem daraus
lernst." Anlass dieses Buches ist also nicht in erster Linie das Festhalten sozialgeschichtlicher
Faktoren der Nachkriegszeit, sondern die mütterliche Fürsorge für das eigene Kind. Vermutlich sind
die Aufzeichnungen vor allem deshalb außergewöhnlich authentisch und werden gerade dadurch
unbeabsichtigt zu einem zeithistorischen Dokument, das seinesgleichen sucht.

Anita Buchheim, 1926 in Zanow (Pommern) als Anita Adam geboren, erlebte eine vergleichsweise
unbeschwerte Kindheit und Jugend in Rügenwalde (Pommern). Der Leser bekommt Einblick in
typische Lebensumstände von Kindern und Jugendlichen zur Zeit des Nationalsozialismus: Anita
Buchheim besuchte als ganz "normales" deutsches Mädchen die Grund- und Volksschule in
Rügenwalde, absolvierte ihr Pflichtjahr und konnte als gute Schülerin eine Lehre bei der Sparkasse
erfolgreich abschließen. Dabei kommt die Mitgliedschaft ihres Vaters in der SA genauso unkommentiert
zur Sprache wie positiv und negativ empfundene Erlebnisse im Familien- und Freundeskreis.

Obwohl Anita Buchheim die Kriegsjahre bereits als problematisch erlebte, begann ihr eigentliches Leiden
erst mit der Besetzung der Heimatstadt Rügenwalde durch die sowjetische Siegermacht: Im März 1945
gelang es der Familie nicht, vor den Sowjets zu fliehen. Anita Buchheim wurde von ihrer Familie getrennt
und in das Lager Graudenz verschleppt, wo sie zu schwerer körperlicher Arbeit gezwungen wurde.
Im Spätsommer gelang ihr die Flucht. Der Titel des Buches bezieht sich auf dieses Ereignis. Die Angst
vor Vergewaltigung und Tod gab ihr die Kraft, sich als blonde Frau wieder in die Gruppe der
schwarzhaarigen einzureihen, denen kurz darauf die Flucht gelang. Keine der blonden Frauen wurde
jemals wieder gesehen. Zurück in Rügenwalde traf sie die Mutter und ihren Bruder. Es gelang ihnen, in
Rügenwalde Arbeit und eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen. Damit begann zugleich eine
quälende, knapp zweijährige Wartezeit bis zur Ausweisung aus Darlowo (Rügenwalde) nach Thüringen
im Jahr 1947. Auf ca. 100 Seiten bekommt der Leser einen genauen Einblick in das Leben der auf
ihre Ausweisung wartenden Deutschen in der polnisch gewordenen Stadt. Dabei ist vor allem die detaillierte
Darstellung von Trivialitäten nicht ermüdend, sondern im Gegenteil unverzichtbar. Auf den letzten 30 Seiten
beschreibt Anita Buchheim ihren schwierigen, aber glücklichen Neuanfang in Thüringen.

Anita Buchheim hat ein unspektakuläres und ehrliches Buch geschrieben. Sie verzichtet auf eine
sensationelle Ausgestaltung der Ereignisse. Besonders hervorzuheben ist, dass sie ihre Erlebnisse nicht
analysiert oder interpretiert. Die Ereignisse sprechen für sich selbst. Bemerkenswert ist ebenfalls, dass
selbst die Darstellung der für sie erniedrigenden und verletzenden Erlebnisse ohne Anklage ist.
So gelingt es ihr, die "Banalität" und "Normalität" des Nachkriegsalltags von Aussiedlern außergewöhnlich
authentisch zu schildern. Gerade durch die Beschreibung von Banalitäten, die auf den ersten Blick keine
nennenswerten Meilensteineder großen Geschichte zu sein scheinen, bietet der Bericht die Gelegenheit,
sich in die Situation von Aussiedlern hineinzuversetzen. Das Grausame der Situation, seine Heimat und damit
ein Stück seiner Identität zu verlieren, wird durch das Bemühend der Autorin, das tägliche Leben so
normal wie nur möglich erscheinen zu lassen, deutlich. Der aufmerksame Leser kann die Spannung spüren,
die den Alltag von Anita Buchheim über mehrere Jahre hinweg bestimmte, und erkennt sehr genau, dass ihr
Alltag alles andere als normal, sondern von täglicher Angst und Sorge geprägt war.

Eine Vielzahl von Fotos und Illustrationen sowie eine Karte veranschaulichen das Geschriebene ausgezeichnet.
In der Einleitung klärt Bernadette Jonda, die die Autorin persönlich kennt, über die Hintergründe des
Buches auf. Der Bericht von Sibylle Dreher über eine Untersuchung zu Flucht und Vertreibung, der am Ende
des Buches abgedruckt ist, führt dem Leser eindringlich vor Augen, dass dieses Thema erst am Anfang seiner
Aufarbeitung steht. In diesem Sinne stellt dieses Werk sowohl für Fachleute als auch für Laien und
Betroffene ein sehr wertvolles Dokument der unmittelbaren Nachkriegsgeschichte Deutschlands dar. Da das
Buch sehr gut aufbereitetes Quellenmaterial erhält, das leicht verständlich ist, ist es für den Einsatz im
Schulunterricht ebenfalls sehr gut geeignet.


Ingeburg Langner zu "Anne Kneip: Ein schwarzes Schaf/Tagebuch einer DDR-Flucht" in der
Thüringer Vierteljahreszeitschrift für Zeitgeschichte und Politik "Gerbergasse 18" - Heft 1/08:

"Das Buch könnte eine Reisebeschreibung sein oder ein Abenteuerroman, leicht und locker

daher erzählt mit der jugendlichen Neugier und Genussfähigkeit einer jungen 19-jährigen Frau.
Diese junge Frau fährt im Jahre 1984 mit einer Jugendgruppe nach Algerien. Sie lebt in Jena, hat eine
Lehre als Bauzeichnerin begonnen und holt in der Abendschule das Abitur nach. "Na und?" könnte
ein zehnjähriger Junge seinen 65-jährigen Großvater im Jahr 2008 fragen, "warum ist es das nicht?"
Wie gut, wenn junge Menschen noch Fragen an uns haben. Ein Tatsachenbericht, wie er uns in dem
hier vorzustellenden Buch von Anne Kneip vorliegt, weckt Erinnerungen bei denen, die Zeitzeugen waren
und ermöglicht Einsicht bei denen, die etwas wissen wollen.

Weil die Ereignisse in einem Tagebuch festgehalten sind, hat die Autorin die Möglichkeit, die

emotionalen Aspekte der Ereignisse nicht zu scheuen, sondern sie für Verständnis und Mitgefühl
zu nutzen. Worum geht es? Die Autorin beschreibt in ihrem Buch die von Anfang bis Ende latent
vorhandene Angst und auch den entschlossen bis leichtfertigen Mut, die sie getrieben haben, ihren
Vorsatz, das Land DDR zu verlassen, in die Tat umzusetzen. Seit den siebziger Jahren wuchs in der
damaligen DDR die Zahl derer, die sich mit einem Leben in einem totalitären System nicht
abfinden wollten. Seit dem Bau der Mauer war die Entscheidung, wo ein DDR-Bürger zu leben hat,
keine freie Entscheidung mehr. Inhaftierungen, Schüsse an der Mauer und Todesfälle bei
Fluchtversuchen waren in der Bevölkerung bekannt und sorgten für Abschreckung bei Unzufriedenen,
für Gleichgültigkeit bei Angepassten und für Akzeptanz bei Systemträgern. Unsere Autorin gehört
zu keiner dieser genannten Gruppierungen. Dennoch vertritt sie einen repräsentativen Querschnitt
besonders jüngerer Leute der 80er Jahre, nämlich den der scheinbar Angepassten. Sie bezeichnet
sich als das schwarze Schaf unter den weißen Schafen. War sie das einzige "schwarze Schaf", oder
gab es derer noch andere? So wie sie als solches nicht erkannt wurde, ging es mit Sicherheit
vielen anderen. Das Bild vom schwarzen Schaf wirft ein enthüllendes Bild auf die in der Diktatur erzeugte
Isolation, mindestens während einer Reise von ausgewählten Jugendlichen der DDR, die mit
"Jugend-Tourist" in ein befreundetes "fast sozialistisches" Land reisen durften.

In vorliegendem Tagebuch sind die Ereignisse vom 1. bis 14. April 1984 festgehalten. Rückblicke

erhellen die jüngste Vergangenheit der Anne K., Rückblicke in das Leben, das sich nicht mehr so leben
will, wie man es von ihr erwartet. Sie schildert kritisch die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse.
Das Gefühl des Eingesperrtseins, die jederzeit mögliche gezielte Stasi-Überwachung und das
daraus erwachsende Misstrauen, die Repressalien gegen "Klassenfeinde" bis hin zu Inhaftierungen, die
Scheinwahlen und die Mangelwirtschaft machen sie zur Systemverweigerin. "Arbeit für alle, billige
Grundnahrungsmittel, medizinische Versorgung für jeden", sagt sie, "sind für mich nicht die Argumente,
die zum Hierbleiben ausreichen." Dabei lässt sie es an Humor und Ironie nicht fehlen. Sie ist entschlossen,
kein Vogel mit gestutzten Flügeln zu werden, der im Käfig versorgt wird und die Fähigkeit verliert,
in der Freiheit fliegen zu können. Der Entschluss, das Land zu verlassen, reift lange bevor sie sich
in die ein Jahr dauernde Warteschleife für die Anwartschaft einer Reise nach Algerien mit
"Jugend-Tourist" einreiht. Die Eltern, die "nicht auffallen wollen", der Freund, der einen anderen
Freundeskreis hat als sie, weil er Parteikarriere machen will, die Arbeitskollegen, zu denen sie ein
freundliches, aber distanziertes Verhältnis hat, sie alle werden von ihr nicht in ihre zunächst
vagen Pläne zur Republikflucht eingeweiht. In der "Junge(n) Gemeinde Stadtmitte" - so nannte
sich die oppositionelle Jenaer Jugendgruppe unter dem Dach der Kirche - hat sie ihre "Parallelwelt"
gefunden, zu der sie sich hingezogen fühlt, in die sie aber nicht näher eindringt. Teilweise fehlt
ihr der Mut, teilweise will sie Eltern und Freund keine Unannehmlichkeiten bereiten. Vielleicht steht
ihr auch der "harte Kern" der Jungen Gemeinde misstrauisch gegenüber. Sie bewegt sich an
der Peripherie des Geschehens, ist aber dennoch hier eher ein schwarzes Schaf unter anderen
schwarzen Schafen als anderswo. Den staatlichen Organen schein ihr Kontakt zu dieser
"Parallelwelt" entgangen zu sein, wie hätte sie denn sonst das Privileg einer Reise in ein Land,
das nicht dem Ostblock angehört, in Anspruch nehmen können?

Sie ist fest entschlossen, diese Reise zur Flucht zu nutzen, mit vollem Risiko und trotz aller

Ungewissheit. Deshalb gilt es, nicht aufzufallen, scheinbar angepasst zu sein. Dabei entwickelt sie
wie so viele, die dem Arbeiter- und Bauernstaat ablehnend gegenüberstehen, den "geschärften Blick"
für die Menschen, die in ihr einen Staatsfeind sehen könnten. Keiner beschreibt das so gut wie George
Orwell in seinem Roman "1984". Doch zurück zum Hier und Jetzt der Reise in Algerien.
Das Misstrauen gegenüber den Mitreisenden ist allgegenwärtig. Sie spielt ihre Rolle gut.
Freund oder Feind? Wer soll das wissen? Da ist der Reiseleiter, ein Erzieher vielleicht. Er plant
straff und leitet streng. Die Qualifikation zum Reiseleiter scheint er auf einer Parteischule
erworben zu haben. Besichtigungen von Betrieben, von sozialen Einrichtungen und "fast sozialist-
ischen" bäuerlichen Genossenschaften nach sowjetischem Vorbild in der Aufbauphase
stehen im Mittelpunkt. Kultur, Geschichte, geographische Besonderheiten oder Naturerlebnisse
gehören weniger zum Programm. Er scheint auch nicht viel darüber berichten zu können.
Kontakte nach außen sind nicht erwünscht, schon gar nicht "Alleingänge" im fremden Land:
"Viel zu gefährlich!" - "Immer schön in der Gruppe bleiben!" Der Arbeiter- und Bauernstaat sorgt
für seine Schäfchen, die weißen natürlich!

Die Tagebuchschreiberin schildert die Jugendlichen der Reisegruppe mit guter Beobachtungsgabe.

Da zeigen sich typische Persönlichkeitsstrukturen, von denen das totalitäre System gern mehr als
Ergebnis der sozialistischen Erziehung hervorbringen würde, zum Beispiel bei ihrem "Bewacher", der sich
wohl fühlt, wenn man ihm sagt, was zu tun ist, wenn er nicht selber entscheiden muss, der ein guter
Befehlsempfänger ist. Und da zeigt sich auch jugendliche Lebenslust trotz Reglement und Parteilinie.
Es wird geflirtet und geflachst. Da bilden sich trotz aller Gängelei und angeordneter Kleingruppenbildung
Sympathien und Antipathien. Anne K. aber ist in aller erster Linie misstrauischen gegen jedermann.
Sie plant stündlich den Absprung, auf eine gute Gelegenheit wartend. Wie hoch ist der Preis? Und dann
kommt die Gelegenheit zum Verlassen der Gruppe. Ihre Verkapselung wird aufgebrochen. Sie ist ganz
allein auf sich gestellt. Gelingt die Flucht mit dem Ziel Bundesrepublik Deutschland nicht, erwartet
sie Haft in der Deutschen Demokratischen Republik. In Algier gibt es zwei deutsche Botschaften. Die eine
wie eine Trutzburg hoch oben auf einer Anhöhe, nachts im Schein heller Beleuchtung mit Scheinwerfern,
die alles im Blick haben, die andere etwas weniger auffällig in einer Seitenstrasse. Letztere ist ihr Ziel,
an dem sie mit viel Glück und dank hilfreicher Menschen ankommt. Sie ist die erste Deutsche aus der
DDR, die in der bundesrepublikanischen Botschaft in Algerien um Hilfe bittet - für den Botschafter kein
Routinefall. Sie bekommt einen neuen Reisepass mit dem "Stempel" der Bundesrepublik Deutschland,
den sie bei der Ausreise aber noch gut verbergen muss, weil in ihm das Einreisevisum fehlt. Zwischen der
DDR und Algerien besteht ein Auslieferungsvertrag! DDR-Bürger reist ein, das bedeutet, DDR-Bürger
reist auch wieder aus. Die einzige Chance ist ein kleiner, unbedeutender Flughafen in der
Wüste, wo man vielleicht nicht so genau über die innerdeutschen Verhältnisse informiert ist. Diese
Rechnung geht auf.

Der Leser verfolgt mit Spannung die Entlassung in die Freiheit, die nicht ohne Risiken ist.

Sicher hat auch die Autorin nicht zu hoffen gewagt, dass sie schon nach fünf Jahren ihre Heimatstadt
und ihre Familie und Freunde im nicht mehr geteilten Deutschland wiedersehen würde, und nun
nicht mehr als schwarzes Schaf. Das vorliegende "Tagebuch einer DDR-Flucht" ist ein spannendes
und informationsreiches Leseerlebnis, ein Stück Zeitgeschichte, hautnah und ehrlich."



Lyrik

Edwin Kratschmer * zu
"Sarah Udi - Der Krieg krepiert":

Zauberbrunnen im Drahtverhau
43 Gedichte von Sarah Udi zurück im Land der Täter

"Da gibt eine 94-Jährige wenige Monate vor ihrem Tod Texte frei, die sie vor mehr als
sechs Jahrzehnten geschrieben hat. Es ist nicht neu, dass man sich im hohen Alter seiner
jungen Jahre erinnert. Aber wenn die Autorin Jüdin ist, Auschwitz und Buchenwald erlebt hat
und die Texte aus den Jahren 1944 bis 46 stammen ("als der Krieg krepierte"), liefern
sie sofort schicksalhafte Koordinaten mit, in denen sie zu begreifen sind. Stehen die Texte einer
überlebenden Zwangsarbeiterin vollends unterm Motto "Ich bin eine Zwangsdichterin",
verweist das gleich doppelt auf die Not- und Stacheldrahtsituation, aus der heraus sie das
Schreiben als zwanghafte Abwehrreaktion "passieren" ließ. Der Leser ist also vorgewarnt -
oder eingestimmt, sofern er über eine "fühlende Seele" verfügt.

So haben die Texte vor allem eine Ventilfunktion, um einem unerträglichen Druck zu widerstehen
und ihn per Wort zu kompensieren. Sie sind "aus dem Bauch heraus" geschrieben, der geschändet
war (wie viele Arten von Schändung es doch geben kann!) und ausgehungert ("wir haben
junges Gras gegessen und Schnecken"). Also Schreiben als Notwehr, Zuflucht, Liebesersatz, Trost
("Sehnsucht macht das Leben aus") zum Zwecke der Affektentladung, gegen Verhärtung und
Versteinerung bis hin zum Zwecke einer Zeugenschaft ("Blutzeuge bin ich!"). Die Verse sind zumeist
heimlich notierte Tagebuchtexte oder in die Nacht gesprochene Monologe ("Tage, ihr harten Gespenster")
und ersonnene Briefe ("Ich hab' dich gesehen heut' Nacht"), eben Notate aus einem Psychotop,
das ein Terrordrom gewesen ist, eine verriegelte Lagerwelt, wo das Schreiben allein schon als eine vom
Tod umlauerte Straftat gegolten hat. Dennoch aufgeschrieben auf grauen Pappen von der
Munitionsverpackung - und schließlich in eine unerwartete Freiheit herübergerettet. Und diese
"Zwangsgedichte" sind die einzigen Gedichttexte von Sarah Udi geblieben.

Der Leser muss also aus seiner mehr oder weniger saturierten Welt heraussteigen und sich auf
diese Gedichte einlassen wollen, er muss genügend Fantasie mitbringen, um sich die Hölle vorstellen
zu können, aus der sie kommen ("Jeder Martertag eine neue Pein"). Es sind Zeugnisse jener oral history,
die Historiografen grober Fahrlässigkeit zeiht, wenn sie ein furchtbares Einzelschicksal
("Bad in Eiter, Blut und Schlamm") einfach in eine Zahl packen. Auch Strukturalisten werden nicht auf
ihre Kosten kommen, wenn sie - auf der Jagd nach Topdichtern - die Texte ausschließlich auf ihre
Poetizität hin testen. Was fängt man da mit den Notschreien einer "zu Tode gedemütigten"
Zwangsarbeiterin an, die traumatisch zu "Zwangsdichtung" getrieben worden ist, für die Idyll, Heimweh,
die Farbe Rosa, eine Nische und ein Morgen attraktive Zufluchtsorte sind? Die nicht davon loskommt, dass
sie ihre sie selbstlos beschützende Mutter in Auschwitz überlebt hat ("Und niemals, nie wieder / werd' ich
meine Mutter seh'n")? Da haben solche Gefühle noch einen echten Sehnsuchtswert. Aber wo in einer
KZ-Welt nur hernehmen das lyrikende Geworte, um diesen von Leid kontaminierte tristen Kosmos adäquat
Sprache werden zu lassen? Man prügle auf ein Opfer ein und verlange dann absurder Weise, dass
es bitte mit mehr Esprit und eine Terz höher schreien möge! Was aber, wenn Sprache letzter Hort vorm
fatalen Resignieren und Verstummen ist, letzte Möglichkeit, Verzweiflung aufzufangen und bohrende
Verlustgefühle in eine vage Hoffnung zu überführen? Ein Atemholen, damit man nicht erstickt, ja, aber
auch ein großes Glück, sich trotz allem vom "Eros" des Formulierens hinterlistig und orgiastisch Wollust
zufächeln zu lassen? Sich in Rausch zu versetzen? Schreiben und Schöpferlust als erzwungene
Menschenrechte und genossen wie ein betäubendes Laster inmitten niederster, notdürftigster
Entwürdigungen?

Liegt das aber nicht alles schon und noch und noch verbucht in Gedichten, Anthologien und
Dokumenten vor? Ist's also nicht eine längst geschlossene Akte? Nur erneuter Nachaufguss?
Auschwitz also schon abgehakt? Schließlich: Wozu überhaupt noch schreiben, alles sei
doch bereits gesagt!

Wer sich dennoch auf die 43 Texte von Sarah Udi einlässt, die in ihrer chronologischen
Reihenfolge die Odysee ihres Leidensweges nachzeichnen, wird in ihnen die Wandlung vom jähen
Absturz ins Todeslager (vom Erinnern an einstiges"alt-buntes Leben" nun "von Todesangst gepackt"),
wie da im Sömmerdaer Rüstungsbetrieb das Gewissen in ihr rumort ("Ich habe mich dem
Tod verkauft…wie eine lumpige, trunkene Hure"), wie ihre Seele "im Drahtverhau" dennoch zum
"Zauberbrunnen" wird, bis zum Tag ihrer Befreiung, als sie sich endlich "die stinkigen Lumpen vom
Leibe reißen" kann und wieder wagt, "ans Tor des Lebens zu klopfen".

Und das ist der Lebensweg der Sarah Udi ("Wie hässlich mich mein Leben betrogen hat!"): 1914
als Elisabeth Schwarz im ungarischen Munkács geboren, Studium in Prag, Lehrerin, verheiratet, 1944
in ein Getto eingewiesen, nach Auschwitz transportiert, Zwangsarbeiten in Gelsenkirchen und
Sömmerda, 1945 Flucht über Österreich, Italien und Zypern, 1948 Ankunft in Palästina/Israel, Lehrerin,
mit 59 erneutes Studium (M.A.), 2007 in Kfar Saba verstorben ("Trotz allem - das Schicksal hat es
gut mit mir gemeint!").

Der Stadt Sömmerda und dem Verleger Friedhelm Berger ist es zu danken, dass die Texte -
übersetzt aus dem Ungarischen - als Erinnerungslast nun auch im Land der Täter vorliegen. Das
beigefügte Bildmaterial macht es vollends zu aussagestarkem Dokument."


* Edwin Kratschmer, Jahrgang 1931, ist Honorarprofessor für Neueste deutsche Literatur an der
Friedrich-Schiller Universität Jena.